3. Fastenpredigt
“Freiheit, Selbstbestimmung und Hingabe – was kann die Psychiatrie und Psychotherapie hierzu beitragen”
mit Prof. Dr. med. Thomas Kraus, Johanniskirche Lauf 2025
Predigttext Johannes 18,28-19,5 – Ein scheinbar wehrloser König
Liebe Mit-Christinnen und Mit-Christen,
wir befinden uns in der Fastenzeit – einer Zeit der Reflexion, des Verzichts und der inneren Neuausrichtung. Es ist eine Zeit, in der wir uns fragen (insbesondere angesichts der weltpolitischen Umbrüche): Wie frei sind wir eigentlich – und wie lange noch? Was bedeutet es, frei zu sein? Was heißt es, wahrhaft frei zu sein?
Ein Abschnitt aus dem Johannesevangelium zeigt uns eine zutiefst paradoxe Situation: Jesus steht vor Pilatus, er ist gefangen, misshandelt, verspottet – was hat das mit Freiheit zu tun?
Hören wir den Text aus Johannes 18,28 – 19,5:
„Sie führten Jesus von Kajaphas zum Prätorium; es war früh am Morgen. (…) Pilatus ging zu ihnen hinaus und sagte: Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen Menschen? (…) Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. (…) Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. (…) Pilatus trat wieder hinaus und sagte: Seht, ich bringe ihn zu euch heraus, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde. Jesus kam heraus, trug die Dornenkrone und den Purpurmantel. Pilatus sagte zu ihnen: Seht, der Mensch!“
Ein bedrückender Text, wie ich finde, aber gleichzeitig ein schockierend aktueller! Ich denke hier sofort an die ungerechten Verhaftungen von Regimegegnern, die wir derzeit wieder zuhauf erleben. Und es fällt mir Dietrich Bonhoeffer ein, der ebenfalls hätte fliehen können, der es stattdessen als seine Aufgabe sah, freiwillig im Land zu bleiben – und damit ins Konzentrationslager und schließlich den Tod zu gehen. Was für ein Mensch!
Jemand der äußerlich vollkommen unfrei ist, entscheidet sich bewusst und innerlich frei, seiner Berufung zu folgen, auch wenn sie in den Tod führt, vielleicht um ein Zeichen zu setzen, dass die innere Freiheit nie zu beschränken ist durch äußeren Zwang. Eine Selbstaufopferung aus einer Mission heraus – also für andere, für uns – wie bei Jesus.
Auf der anderen Seite sehen wir in der Psychiatrie und Psychotherapie immer wieder Menschen, die aus Selbstaufopferung ins Burnout gerutscht sind, sie sind meist schwer depressiv und wollen manchmal nicht mehr leben. Was ist hier der Unterschied zum vorigen Fall? Jemand der äußerlich vollkommen frei ist, wird innerlich von solch massiven Zwängen, Unsicherheiten und Abhängigkeiten geplagt, dass er nicht mehr nein sagen kann, wenn es darum geht, auch mal eine Pause einzulegen, oder den pflegebedürftigen Angehörigen einmal in die Kurzzeitpflege zu geben, oder dem Chef in der Arbeit gegenüber nein zu sagen, wenn er weitere Arbeit in der Freizeit und am Wochenende einfordert. Wo kommt diese innere Unfreiheit her? Manchmal aus schlechtem Gewissen, aus eingeimpften Schuldgefühlen oder übertragenden Leistungsansprüchen. Manche fühlen sich nur gemocht, wenn sie Übermenschliches leisten, manche erhoffen sich endlich Lob und Liebe von den Eltern zu bekommen, auch wenn diese vielleicht schon tot sind. Dann fällt mir oft der Spruch Jesu ein, „der Lahme kann nicht dem Kranken helfen“. Er verlangt also diese Form der Selbstaufopferung gar nicht von uns.
Fassen wir zusammen: es gibt auch äußere Unfreiheit bei maximaler innerer Freiheit und maximale äußere Freiheit bei vollkommener innerer Unfreiheit.
Was ist überhaupt Freiheit und wie hängt sie mit Selbstbestimmung und Selbst-Verantwortung zusammen?
1. Freiheit – die Basis eines gleichschenkligen Dreiecks
Freiheit bedeutet im Kern die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen. Sie kann sich auf äußere Umstände (z. B. politische oder finanzielle Freiheit) oder innere Prozesse (z. B. Angst-Freiheit, Willensfreiheit) beziehen.
Ein depressiver Mensch mag äußerlich alle Freiheit der Welt haben – doch in seinem Inneren fühlt er sich wie in einem Gefängnis. Jemand mit einer Angststörung vermeidet bestimmte Situationen, weil sie ihn zu sehr überfordern. Ein Suchtkranker erlebt den bitteren Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und dem Zwang seines Verlangens. Und wir alle kennen die inneren Kämpfe zwischen dem, was wir eigentlich wollen, und dem, was wir aus Angst, Bequemlichkeit oder Gewohnheit tun.
Freiheit lässt sich also auch unterscheiden in:
Negative Freiheit: Freiheit von äußeren und inneren Zwängen (z. B. keine Diktatur, keine Bevormundung, keine befehlenden Stimmen im Kopf). Oder:
Positive Freiheit: Freiheit zu – also die Fähigkeit, das eigene Leben bewusst zu gestalten, also über sich selbst zu bestimmen.
Freiheit ist dabei die Voraussetzung für Selbstbestimmung – aber allein, als Freiheit an sich ist sie noch nicht sinnvoll. Ohne Reflexion kann sie in Willkür, Egoismus oder sogar in die Selbstzerstörung führen.
2. Selbstbestimmung – die Ausgestaltung der Freiheit
Selbstbestimmung bedeutet, das eigene Leben bewusst und reflektiert zu gestalten – auf der Grundlage der eigenen Werte, Bedürfnisse und Überzeugungen.
Sie setzt Freiheit voraus, denn man kann sich nur selbst bestimmen, wenn man auch entscheiden darf.
Sie erfordert aber auch innere Reife, z. B. die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, Selbstkritik, Impulskontrolle und Perspektivübernahme.
Psychisch gesunde Menschen können in der Regel selbstbestimmt handeln, davon gehen wie aus. Bei schweren psychischen Erkrankungen (z. B. Psychosen, Manien, schwere Depressionen) kann diese Fähigkeit eingeschränkt sein – und dann müssen andere (z. B. Ärzte, Angehörige, rechtliche Betreuer, Richter) über uns in der Krankheit entscheiden. Wir sprechen von Fürsorge. Sie muss engen Grenzen folgen und durch gesellschaftlich festgelegte Regeln (also Gesetze) beschränkt sein. Der sog. natürliche Wille, sich in der Psychose nicht behandeln zu lassen, und den befehlenden Stimmen zu folgen, z.B. sich umzubringen, darf nicht über dem sog. freien Willen stehen, der ohne Krankheit zu einem selbstverantworteten Leben befähigen würde. Es geht also darum, durch – vorübergehenden und maßvollen Zwang zur Behandlung – den krankheitsbedingt verschütteten freien Willen wiederherzustellen. Schwierig – aber nötig – und möglich. Bei ethisch schweren Abwägungen haben wir mittlerweile auch die Möglichkeit geschaffen, ein unabhängiges Ethik-Konsil einzuholen.
Damit sind wir beim Begriff der Verantwortung angekommen, dem 3.Schenkel unseres Dreiecks nach Freiheit und Selbstbestimmung.
3. Verantwortung – die Konsequenz
Verantwortung bedeutet, für die Folgen des eigenen Handelns einzustehen – gegenüber sich selbst, anderen Menschen und der Gesellschaft.
Wer frei ist und sich selbst bestimmt, trägt auch Verantwortung.
Aber wie oft fliehen wir vor dieser Verantwortung! „Ich kann nichts dafür, so bin ich halt.“ „Es ist mir zu anstrengend, mich zu verändern.“ „Die anderen sind schuld an meiner Situation.“ Doch Verantwortung übernehmen bedeutet, dass wir uns nicht nur als Opfer unserer Umstände betrachten. Machen wir uns klar: Wir haben immer eine Wahl!
Verantwortung macht deutlich, dass Freiheit nicht grenzenlos sein kann – denn sie endet dort, wo die Freiheit anderer verletzt wird.
In einer ethisch orientierten Gesellschaft ist Freiheit nie Selbstzweck, sondern immer auch in Beziehung zu anderen zu verstehen. Es besteht eine Verantwortung für das Gemeinwohl, die Fürsorge füreinander.
Fürsorge darf aber auch nicht ausgenutzt werden von autoritären Staaten, die Oppositionelle und Andersdenkende sowie psychisch Kranke ausgrenzen, wegsperren und psychiatrisieren.
Lassen Sie mich wieder zusammen: Wie ist das Zusammenspiel zwischen Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung?
Freiheit bedeutet, nicht beschränkt zu sein durch etwas oder für etwas.
Freiheit ermöglicht Selbstbestimmung.
Selbstbestimmung ohne Freiheit ist eine Illusion.
Freiheit ohne Verantwortung wird zu Egoismus.
Verantwortung ohne Freiheit führt zu Fremdbestimmung oder autoritärem Zwang.
In einer menschlichen, gerechten und seelisch gesunden Gesellschaft gehören alle drei zusammen – wie drei Seiten eines stabilen Dreiecks
Wie erreicht man nun innere, geistige Freiheit und wie kann uns die Psychiatrie und Psychotherapie dabei helfen?
Das Ziel vieler unserer Therapien ist klar: Freiheit und Selbstbestimmung wiederherzustellen, wenn sie durch Krankheit eingeschränkt sind.
Hierzu können wir mittlerweile auf eine Vielzahl von biologischen Mitteln zurückgreifen wie Medikamente, Hirnstimulationsverfahren, physikalische Reize oder Schlafphasenverschiebungen. Wir greifen also direkt und indirekt in den Gehirnstoffwechsel ein, um krankheitsbedingte Folgen zu normalisieren.
Heißt das, unser Denken ist nur ein Produkt unseres Gehirns, der Geist kann also gar nicht frei sein?
Ja, sagt die moderne Neurowissenschaft, wir sind physikalisch-biologisch determiniert, ein Produkt aus Strahlen, Atomen und Stromflüssen sowie von Zellteilung, Hormonen und Signalübermittlung. Machen wir die Probe: Überlegen Sie, ob ein umfallender Baum ein Geräusch macht, wenn sie viele Kilometer entfernt sind! Wer sagt ja, wer sagt nein? Farben gibt es ebenfalls nicht in der Natur.
Unser Gehirn erschafft unsere Welt, wir bekommen in einer Art Tunnel die Illusion einer Welt vorgespielt, eines Ichs und eines Bewusstseins des Ganzen. Der Philosoph Thomas Metzinger spricht von einem Ego-Tunnel in seinem gleichnamigen Buch. Unsere Wahrnehmung ist prediktiv, also vorhersagend, wir bekommen aus dem Gedächtnis also schon den vorhergesagten nächsten Moment als Ist-Zeit-Erleben eingespielt. Wenn wir gedankenversunken die Straße entlanggehen, merken wir dies nur, falls wir stolpern, denn dann ist ein Vorhersagefehler passiert. Wer von Ihnen hat sich noch nicht schon einmal gewundert, dass er oder sie minutenlang Auto gefahren ist, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Unser Gehirn steuerte uns unbewusst, während wir uns einem Gedankenfluss hingegeben haben, den wir meistens ebenfalls nicht initiiert hatten. Das Gehirn hat ausgerechnet, dass das Körperbudget nach mehr Glucose-Zufuhr ruft für die beabsichtigte Autofahrt und hat Hungergefühle eingespielt, ein wenig unangenehm gefühlsmäßig gefärbt, im Bauch lokalisiert und außerdem Gedanken an die Nahrungsbeschaffung verbunden mit der Angst, es nicht rechtzeitig zum Einkaufs-Laden zu schaffen, bevor er schließt. Alles eingespielt. Was ist daran frei? Also sind wir determiniert?
Die Frage nach der Freiheit und einer möglichen Vorbestimmung ist so alt wie die Menschheit und die Philosphiegeschichte selbst. Vor genau 500 Jahren 1525 verfasste hierzu Martin Luther – wie Sie wissen, feiern wir dieses Jahr auch 500 Jahre Reformation im Nürnberger Land – seine berühmte Schrift „De servo arbitrio“ („Vom unfreien Willen“), als Antwort auf den Humanisten Erasmus von Rotterdam, der die Lehre vom freien Willen vertrat. Luther widersprach entschieden: „Der menschliche Wille vermag nichts als sündigen.“ Luther sah den Menschen als nicht fähig an, aus eigener Kraft das Heil zu erlangen („verderbt“). Sein Wille sei durch die Sünde so sehr gebunden, dass nur Gott ihn befreien könne. Der Mensch sei also nicht wirklich frei in seinen Entscheidungen, sondern stehe immer unter einem Einfluss – entweder der Gnade Gottes oder der Macht der Sünde.
Manche sahen in dieser Lehre einen radikalen Determinismus: Wenn der Mensch keinen freien Willen hat, ist er dann überhaupt verantwortlich für sein Handeln? Das gleiche gilt für den neurowissenschaftlichen Determinismus. Kann eine Gesellschaft überhaupt jemanden bestrafen, wenn es gar keine Schuld gibt?
Wie kommen wir hier nun zu einer Lösung? Gibt es doch einen freien Willen?
Evolutionsbiologisch brachte es dem Menschen Vorteile, abstrakte Begriffe zu entwickeln wie Freiheit, Schuld, Gemeinsinn oder Liebe. Dadurch konnten sich Gesellschaften bilden, die gemeinsam besser überleben konnten. Der Ego-Tunnel ist also vernetzt, d.h. es gibt sich verzweigende Röhren. Und wie die Evolution ein lernendes System ist, so können wir innerhalb dessen auch erziehen und therapieren – und damit den Menschen verändern, formen und ein- oder ausgliedern aus unserer Gesellschaft. Der Determinismus hat also zumindest eine Änderungs-Perspektive in die Zukunft. Auch oder gerade wenn es nur eine Illusion ist, können wir sie uns trotzdem zunutze machen für ein Wirken und Verändern in der Welt.
Doch, reicht uns das? Wo ist der Geist bei alledem geblieben? Ist wirklich alles Geistige aus, wenn unser Gehirn nicht mehr arbeitet? Gibt es nicht wenigstens Teile eines höheren Geistes in uns, die überleben und sich vielleicht im (denkbaren) Jenseits vereinen – mit dem höheren Geist, also mit Gott? Gibt es überhaupt einen Sinn ohne ihn? Hier setzt der Glaube ein.
Als gläubige Menschen tun wir uns also in vielerlei Hinsicht leichter. Wenn alles einen Sinn haben soll und einen Anfang, dann geht dies nicht ohne einen Verursacher und evtl. Zielgeber. Also nicht ohne einen Geist. Weil wir glauben, gibt es einen Geist.
Und was sagt nun Luther zum Determinismus-Vorwurf? Luther meinte nicht, dass der Mensch keine Wahl habe – sondern dass er ohne Gottes Hilfe nicht das Gute wählen könne. Die Freiheit zur wahren Entscheidung kommt erst durch Gottes Gnade.
In der Psychiatrie verwenden wir nicht nur biologische Mittel, nein wir führen intensiv Gespräche, führen Psychotherapie durch. Psychiatrie ist Beziehungsmedizin. Wir helfen Patientinnen und Patienten einen freien Kopf zu bekommen, frei zu werden von ihren belastenden Gedanken, ihrem Grübeln und ihren Sorgen. Sie sollen ihren Geist wieder selbst steuern. Geht das denn? Kann man den Gedankenfluss stoppen? Können wir überhaupt „nicht-denken“? Machen wir folgendes kleines Experiment: Achten Sie einmal ganz genau auf den Beginn Ihres nächsten Gedankens!? Bei wem ist einer gekommen? Bei wem nicht? Na also. Wir können ja doch Gedanken steuern!?
Halten Sie nun inne und fixieren Sie mit den Augen einen Punkt vor Ihnen, betrachten Sie genau dessen Struktur für wenige Sekunden. Wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit nun Ihrem Atem zu und genießen Sie einen langsamen, bewussten Atemzug. Gönnen wir uns noch einen kurzen Moment der Stille.
Diese Übung der Achtsamkeit sollten Sie mehrmals täglich wiederholen, auch indem Sie sich eine Pflanze betrachten, ein Bild oder einen interessanten Gegenstand. Die Autoren des Buches „Achtsamkeit to go“ beschreiben heilende Wirkungen ähnlich einer längeren Meditationsarbeit am Stück – nur eben kürzer.
Patienten, die schon morgens und abends im Bett von Ängsten oder Grübelgedanken geplagt werden, lernen z.B., sich auf einen Punkt an der Decke oder die Geräusche der Umgebung wie das Zwitschern der Vögel, zu konzentrieren, sie beobachten ihre Atmung, zählen rückwärts von Hundert, sagen positive Sätze (sog. Affirmationen) wie „Ich vertraue auf meine innere Stärke“ oder sie sprechen ein Gebet, wenn sie gläubig sind. Wenn sie keinen religiösen Hintergrund haben, nutzen viele gerne die uralten Metta-Sätze „Möge ich glücklich sein, möge ich gesund sein, möge ich behütet und beschützt sein, möge ich in Frieden und in Leichtigkeit leben“. Sie lernen also, ihre Gedanken zu steuern, sie nicht mehr ihrem freien Lauf zu überlassen, der nichts anderes als ein gespeichertes falsches (eben krankes) Konzept darstellt, das ihnen ständig vom Gehirn eingespielt wird.
Was erreichen wir also mithilfe dieser Achtsamkeitstechniken? Wir treten heraus, aus dem Auto-Pilot-Modus unseres Gehirns, wir bestimmen nun wieder selbst, was der Inhalt unseres Bewusstseins ist, wissend, dass wir unsere Gedächtnis-Konzepte damit umschreiben, positives Denken ruft positive Gefühle hervor und verändert unser Handeln, das wiederum auf die Gefühle zurückwirkt. Außerdem erzeugen wir bewusst und selbst neue Vorhersagefehler im neuropsychologischen Sinn, d.h. wir kommen tatsächlich in die Wirklichkeit (selbstverständlich innerhalb unseres Tunnels) und leben eine Zeitlang in der Echtzeit. Deshalb ist es auch anstrengender und erschöpfender und wir können es nicht dauerhaft durchhalten- dafür werden wir aber mit der Zeit immer besser darin, Achtsamkeit ist eine Lebensaufgabe.
Mithilfe von Psychotherapie und Achtsamkeitstechniken wird gedankliche Steuerung erreicht und damit innere Freiheit erzeugt, die volle Selbstbestimmung wird möglich. Ein verantwortliches Leben kann daraus resultieren.
Der Kreis schließt sich wieder und ich komme zurück auf das Zusammenwirken von Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung. Martin Luther drückt dies wunderbar aus in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) mit folgenden Worten:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Der erste Satz betont die Freiheit und Selbstbestimmung des gläubigen Menschen: Durch den Glauben ist er frei von äußerem Zwang, sogar von Gesetzlichkeit, auf jeden Fall von Schuld.
Der zweite Satz zeigt, dass diese Freiheit nicht zur Willkür führt, sondern zur Verantwortung und Hingabe an andere. Der christliche Mensch handelt aus freiem Willen zum Dienst – nicht aus Zwang also, sondern aus Liebe und Hingabe.
Luther bringt hier auf den Punkt, dass wahre Freiheit immer Verantwortung einschließt, und dass Selbstbestimmung nicht egoistisch, sondern beziehungsorientiert gelebt werden soll.
Kommen wir damit nochmals auf den heutigen Predigttext zurück.
Jesus lebt uns einen radikalen Freiheitsbegriff vor, die höchste Form der Freiheit zu etwas – nämlich die Hingabe an seine höhere Bestimmung, seine Mission, an den Gehorsam seinem Vater gegenüber und dessen Willen. Selbstaufopferung aus vollkommener Freiheit heraus – nicht aus innerem Zwang oder falsch verstandenem Selbsterlösungswillen heraus. Seine Freiheit war nicht die eines Rebellen, sondern die einer tiefen inneren Überzeugung.
Jesus sagt in Johannes 10,18: „Niemand nimmt es [mein Leben] mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin.“
Diese Freiheit unterscheidet Jesus von Pilatus, von den Hohenpriestern, von der tobenden Menge: Pilatus ist gefangen in seiner Angst vor Rom und dem politischen Druck. Die Hohenpriester sind gefangen in ihren Vorstellungen von Macht und Gesetz. Die Menge ist gefangen in ihrem blinden Hass und ihrer Manipulierbarkeit.
Jesus allein bleibt frei, weil er nicht aus Angst oder Zwang handelt, sondern aus Liebe. Und was geschieht? Pilatus bringt ihn hinaus und sagt: „Seht, der Mensch!“ Ja, genau das ist er: Der wahre, vollkommene Mensch. Der Mensch, der sich selbst hingibt – nicht aus Schwäche, sondern aus Freiheit.
Hierin liegt eine tiefe geistliche Wahrheit: Wahre Freiheit ist nicht die Fähigkeit, alles tun zu können – sondern die Fähigkeit, das Gute zu wählen. Insbesondere in der unserer modernen Welt, in der wir oft hören: „Ich bin frei, wenn ich mich nicht einschränken lasse, wenn ich tun kann, was ich will.“ Aber sind wir wirklich frei, wenn wir jedem Impuls nachgeben? Ist der Süchtige frei, der nicht aufhören kann zu konsumieren? Ist der von Zorn erfüllte Mensch frei, der nicht vergeben kann? Nein. Wahre Freiheit liegt nicht im Beliebigen, sondern im Wahren.
Was bedeutet das für uns? Es bedeutet, dass wir jeden Tag vor einer Entscheidung stehen: Leben wir eine Freiheit, die sich selbst genügt – oder eine Freiheit, die sich verschenkt?
Und genau hier setzt die Fastenzeit an – quasi als persönliche Einübung der echten Freiheit:
Wir fasten nicht, um uns zu quälen. Wir fasten, um uns selbst besser zu verstehen. Wir fasten, um zu spüren, dass wir nicht von äußeren Dingen abhängig sind. Wir fasten, um neu zu lernen, was es bedeutet, wahrhaftig frei zu sein.
Denn die wahre Freiheit beginnt nicht draußen in der Welt – sie beginnt in uns selbst.
Wenn Sie möchten, dann stellen Sie sich folgende Fragen:
Was hält mich davon ab, wirklich frei zu sein? Gibt es Ängste, die mich einschränken? Gibt es Gewohnheiten, die mich steuern? Gibt es Dinge, die ich loslassen müsste, um freier zu werden?
Vielleicht ist genau diese Fastenzeit eine Gelegenheit, sich diesen Fragen zu stellen. Nehmen Sie sich die Zeit! Wenn nicht jetzt, wann dann? Planen Sie für sich selbst täglich Zeit ein, 10 min morgens und abends, meditieren Sie, schreiben Sie Tagebuch, gehen Sie achtsam mit allen Sinnen spazieren. Beten Sie.
Schalten Sie Ablenkungen aus, gönnen Sie sich Handy freie Zeiten. Lauschen Sie auf die Stille! Die Antwort darauf wird aus Ihrem Herzen kommen!
Ich komme zum Schluss:
Freiheit ist kein Zustand, sondern eine tägliche Entscheidung. Eine Entscheidung, sich nicht fremdbestimmen zu lassen, nicht von äußeren und inneren Zwängen, von Ängsten oder Gewohnheiten. Eine Entscheidung für Selbstverantwortung und innerer Klarheit.
Die Fastenzeit ist nicht in erster Linie eine Zeit des Verzichts, sondern eine Zeit der wahren Befreiung. Wahre Freiheit ist Hingabe. Jesus hat uns zur Freiheit befreit. Leben wir sie!
Amen.