Versöhnung – im Strafvollzug?
Fastenpredigt von Katharina Leniger am 27.03.2022 in der Johanniskirche in Lauf an der Pegnitz
Woran denken Sie, wenn Sie heute Morgen an Versöhnung denken?
Ich merke, es fällt mir gerade schwer, an Versöhnung zu denken, ohne dass meine Gedanken abschweifen zu den unzähligen Konflikten, die gerade in der Welt toben, obwohl – oder gerade weil – sie meilenweit von „Versöhnung“ entfernt sind. Es kommen mir Bilder und Szenen in den Kopf, wo Versöhnung so dringend nötig wäre und doch unerreichbar scheint: Der zerstörerische, wahnsinnige Krieg in der Ukraine, der allen Beteiligten so ungeheuer großen Schaden zufügt. Der Umgang mit Hass innerhalb der Gesellschaften: Querdenker gegen die Politik, Kämpfer:innen für die selbst definierte Freiheit gegen das „Team Vorsicht“. Es kommen mir auch Konflikte innerhalb meiner, der katholischen Kirche in den Sinn, Menschen, die sich um die Bewahrung der Rechtgläubigkeit sorgen und diejenigen, die versuchen, dabei nicht das Bunte des Menschlichen und die Menschen selbst außen vor zu lassen. Daneben die unzähligen, so sehr Gequälten, denen Gewalt in Institutionen geschehen ist, die seelischen, körperlichen oder spirituellen Missbrauch ertragen mussten und immer wieder neu verletzt werden durch das Handeln und Nicht- Handeln der Täter oder denen, die lieber die Institution als die Menschen schützen. Es gäbe noch viele weitere Beispiele zu nennen.
So unterschiedlich diese beschriebenen Brandherde sind: Wenn ich an Versöhnung denke, wird mir unwohl. Wie soll das denn angesichts des Leids und der Schuld möglich sein? Ist Versöhnung da nicht der blanke Hohn? Nicht ein Griff nach den Sternen? Wäre es nicht schon mal genug, wenn endlich Ruhe einkehren würde, ein Status Quo, in dem man die andere Seite leben lässt, statt sie zu quälen, zu missionieren, Rache zu nehmen? Dieses Unwohlsein lässt sich nicht so schnell wegwischen, es gehört zu diesem Thema wohl unweigerlich dazu. Versöhnung klingt erst einmal nach einer „schönen neuen Welt“. So einfach ist es nicht.
Ich habe noch eine zweite Frage an Sie (anstrengend, ich weiß). Woran denken Sie, wenn Sie an Gefängnisse denken?
Vielleicht kennen Sie Bilder aus der Zeitung oder dem Fernsehen, Gitter vor Fenstern, abgeschlossene Türen, volltätowierte junge Männer. Viele von Ihnen werden wahrscheinlich noch in keinem Gefängnis gewesen sein. Das Gefängnis ist ein Ort, der in unserer Gesellschaft verborgen ist und den man nicht so leicht verstehen, nicht „begreifen“ kann. Folglich ist es auch mit viel Mühe verbunden, den dort Inhaftierten, den Bediensteten, dem Alltag näher zu kommen.
Wenn es Ihnen geht wie mir vor dem Beginn meiner Doktorarbeit, dann denken Sie womöglich, dass es Gefängnisse braucht, denn es braucht ja in einer Gesellschaft etwas, das wartet, wenn eine Person sich nicht an Recht und Gesetz hält oder andere verletzt. Diese Begründung ist keineswegs falsch. Es ist in einem demokratischen Staat essenziell, zu begründen, warum der Staat Menschen die Freiheit entzieht: Mit der Freiheitsstrafe soll Schuld ausgeglichen und ein begangenes Unrecht gesühnt werden. Im Blick auf die Zukunft sollen weitere Gewalttaten präventiv verhindert und die Tatverantwortlichen resozialisiert werden. Es sind also mindestens zwei Perspektiven, die staatliches Strafen rechtfertigen: Schuldausgleich für die Tat in der Vergangenheit und Prävention für die Zukunft. Das alles passiert zwischen dem Staat, vertreten durch die Justiz, der den Rechtsbruch ahndet, und der tatverantwortlichen Person. Sie merken schon: Staat und Täter – die geschädigte Person spielt hier keine Rolle, allenfalls als Nebenkläger:in. Das hat gute Gründe, denn wenn Opfer die Strafhöhe bemessen, ist das womöglich befriedigend für sie, aber überhaupt nicht mehr gerecht. Es ist eine große zivilisatorische Errungenschaft, dass Taten von unabhängigen Gerichten verurteilt werden, denn ein gerechtes Verfahren verhindert im schlimmsten Fall Blutrache oder Lynchjustiz.
Der Justizvollzug wiederum ist die Institution, die die verhängte Freiheitsstrafe vollzieht – der Name sagt es bereits. Für den Vollzug selbst stellt sich demnach nicht die Frage, warum gestraft wird, sondern vielmehr die, wie das Urteil der Justiz vollzogen wird. Der Justizvollzug straft selbst nicht mehr, denn das ist durch den Freiheitsentzug bereits erledigt. Er darf auch gar nicht mehr zusätzlich strafen. Die Ziele bzw. Aufgaben des Justizvollzugs regelt das
Strafvollzugsgesetz, das in jedem Bundesland etwas unterschiedlich ist, aber dennoch zwei Pole hat: Die Resozialisierung der Tatverantwortlichen und die Sicherheit der Allgemeinheit.
Ich mag es nicht zu kompliziert werden lassen, aber das ist schon eine Herausforderung für das Gehirn. Man schließt Menschen aus der Gesellschaft aus, um sie letztlich wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Sie sollen zu einem Leben in sozialer Verantwortung und ohne weitere Straftaten befähigt werden, eben resozialisiert werden, indem sie von jeglicher sozialen Einbindung in ihr Umfeld gelöst werden. Ein Beispiel für diese paradoxe Situation: In Bayern stehen den Inhaftierten monatlich insgesamt zwei Stunden Besuchszeit zu, manchmal auch drei, um den Rückhalt und die Verbindung zu ihren Freund:innen und Verwandten nicht zu verlieren. Sie haben schon richtig gehört: Zwei bis drei Stunden im Monat. Telefonate oder gar Internetzugang sind in aller Regel in Bayern nicht vorgesehen, wobei die Corona-Pandemie hier einiges verändert hat. Häufig bleibt als Kontaktmöglichkeit der gute alte Brief. Lange konnte ich mir nicht vorstellen, was das wohl heißt, überhaupt isoliert zu sein, bis die Corona-Pandemie kam. Ich weiß nicht, wie eine solche Situation zu ertragen ist, ohne unmittelbaren Kontakt zu denen zu haben, die mir am Herzen liegen.
Dem Vollzugsziel der Resozialisierung gegenüber steht die Sicherheit. Sicherheit will die Verteidigung vor einer vermutlichen und in der Zukunft liegenden Verletzung erreichen. Und so ist sie ein Phänomen, mit dem nie „fertig“ werden kann, sie lebt von einer Bedrohung, die noch unbekannt, allenfalls prognostizierbar ist. Und damit ist mit ihr wahnsinnig gut Politik zu machen, weil sie mit Angst verknüpft ist. Ein Altbundeskanzler sagte doch vor vielen Jahren, man solle Straftäter wegsperren – für immer. Und manch eine:r wird bei sich gedacht haben, dass das wohl viele Probleme lösen würde.
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass der Wunsch, alle Menschen, die gegen Gesetz und Ordnung verstoßen haben und verurteilt wurden, für immer hinter Gitter zu sperren, nicht nur menschenunwürdig ist, sondern auch teuer und unrealistisch. Und trotzdem ist es bequem, diese Menschen nicht zu sehen und die Augen davor zu verschließen, dass sie irgendwann zurückkehren. Neue Justizvollzugsanstalten entstehen häufig außerhalb der Stadt, in Würzburg liegt die JVA im Industriegebiet. Die Gesellschaft sichert sich ab mit hohen Mauern oder vielen Kilometern Feld und Wiese um die Inhaftierten herum. Die meisten Menschen kommen jedoch statistisch irgendwann wieder zurück in unsere Gesellschaft, auch wenn der so genannte „Drehtüreffekt“ – raus aus der Anstalt und direkt wieder hinein – häufig ist.
Die Logik einer JVA, das wollte ich deutlich machen, folgt also vornehmlich dem Spagat zwischen Resozialisierung und Sicherheit. Auch wenn sich die im Gefängnis tätigen Mitarbeitenden noch so sehr um die so genannte „Behandlung“ bemühen, wird die Institution immer mit dem Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit entgegenhalten. Dies ist auch der Überforderung geschuldet, die die Unterbringung von Menschen mit weitestgehend schwierigen sozialen Hintergründen und Biographien mit sich bringt. Jedes stumpfe Messer wird da zur Gefahr und ich kann das Bedürfnis nach Ordnung auch irgendwie verstehen, denn es gibt in Gefängnissen wohl nichts, was es nicht schon gegeben hätte. Schlicht muss man aber feststellen: Man schließt drei Schlupflöcher und es öffnen sich fünf neue. Sicherheit im Gefängnis ist eine Sisyphusarbeit.
Das ist die rechtliche und institutionelle Seite einer JVA. Für die Menschen, die „drinnen“ leben, stellen sich ganz andere Fragen. Außer Arbeit, dem Hofgang, einem kleinen Plausch mit den Kolleg:innen, Sport, vielleicht dem Gang zur Bücherei bleibt im Haftalltag nicht viel übrig, mit dem man sich ablenken kann. Neben der Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit, ihren eigenen Verletzungen, Schulden, körperlichen Problemen, Süchten, Ängsten, schwierigen Beziehungskonstellationen, kommt da immer wieder die Frage auch nach den Personen auf, die Schaden genommen haben. Ein Inhaftierter sagte einmal in einer Dokumentation: „Es ist, als würde uns ein Seil mit einem Knoten in der Mitte verbinden. Je mehr wir uns streiten und an beiden Enden ziehen, desto fester wird der Knoten. Und plötzlich haben wir keine Chance mehr, uns voneinander zu lösen.“
Im Vollzug gibt es keine Begegnung zwischen denen, die wir Täter oder Opfer nennen. Das ist als Problem erkannt worden und es wird inzwischen versucht, die Ebene zwischen Tatverantwortlichen und Geschädigten in den Vollzug mit hineinzunehmen: Den Geschädigten steht eine Auskunft darüber zu, wann die tatverantwortliche Person entlassen wird oder Ausgang hat. Inhaftierte nehmen an Programmen teil, die sie mit der Situation von Geschädigten konfrontieren, so genannten Opferempathieprogrammen. Es gibt Projekte für den so genannten Täter-Opfer- Ausgleich – ebenso während allen Phasen des Strafprozesses und auch während der Inhaftierung. Es geht darum, dass der Konflikt, die geschädigte Beziehung zwischen den Beteiligten gelöst werden kann, nicht nur auf gerichtlicher
Ebene. Die Betroffenen sollen direkt oder indirekt einen Ausgleich, eine Entschuldigung, eine Wiedergutmachung durch die Tatverantwortlichen erhalten. Auch das ist schwer vorstellbar und eine echte Zumutung. Und doch gibt es Untersuchungen und Erkenntnisse, dass solche Verfahren positive Effekte hatten: einen Dialog, eine Annäherung, ein tieferes Verständnis füreinander und in gelungenen Fällen weniger Angst und mehr Befreiung – auf beiden Seiten.
Was dem Gefängnis und dem ganzen Justizsystem allerdings im Großen und Ganzen fehlt, sind Orte, in denen Begegnungen und Dialog, soziales Lernen und Aushandeln möglich sind. Das gilt generell, aber insbesondere für die Begegnung zwischen den Beteiligten an einer Straftat. Es braucht viel Zeit, geschultes Personal, Räume und den politischen Willen, wirklich mit den Menschen zu arbeiten und sie nicht als Objekt der Behandlung zu begreifen. Straffälligkeit ist kein medizinisches Problem, dass man durch Behandlung heilen könnte. Leiden lindern können nur die Beteiligten selbst und zu einem anderen Menschen erziehen kann man sie schon gar nicht. Von Versöhnung will ich hier noch gar nicht sprechen.
Womöglich ist Ihnen deutlich geworden, dass Justizvollzugsanstalten eher nicht zu den Orten gehören, an denen ein geschützter Dialog so einfach möglich ist. In meiner Doktorarbeit versuche ich dennoch, diese beiden unvereinbar scheinenden Dinge zusammen zu bringen: Versöhnung und Gefängnis. Mir ist bewusst, wie voraussetzungsreich und gefährlich dieses Unterfangen ist. Der Justizvollzug ist ein Ort der Täter. Was bedeutet das für die Opfer? Wie kann man sicherstellen, dass Gespräche freiwillig und nicht mit dem Ziel einer Hafterleichterung geführt werden? Wie kann man verhindern, dass erneute Verletzungen, so genannte Reviktimisierungen stattfinden? Trotz dieser Bedenken versuche ich zu benennen, was es braucht, damit derartige Begegnungen und Aufarbeitungsräume ermöglicht werden können.
Grundlage eines Konfliktes ist ja, dass ein Mensch und damit eine Beziehung zwischen Menschen zutiefst verletzt wurde. Es sind Verletzungen entstanden, die zu besonderen Bedürfnissen geführt haben und passende Reaktionen oder Antworten erfordern. Es ist für mich als Außenstehende und Nicht-Betroffene nicht vorstellbar oder zu formulieren, was diese Bedürfnisse der Geschädigten, aber auch die der Tatverantwortlichen sind. Deshalb wird der Konflikt wieder in die Hände der Beteiligten zurückgegeben, wenn diese das möchten und können. Zuerst steht also die Freiwilligkeit aller Beteiligten und damit die Autonomie, also die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, die unbedingt geschützt werden müssen. Die Beteiligten sagen, was sie brauchen und das ist in jedem Fall zu achten. Es muss in jedem Augenblick und von jeder Partei möglich sein, den Prozess zu unterbrechen oder abzubrechen. Nur wenn beide Seiten ihre je eigene subjektive Wahrheit, ihre Erlebnisse und Gefühle in geschütztem Rahmen erzählen können, ist ein erstes Verstehen und Aufeinander Zugehen möglich. Ohne Frage ist dieses Öffnen gefährlich, denn es macht anfällig für Verletzungen und viele geschädigte Menschen können nur schwer ertragen, sich ein weiteres Mal angreifbar zu machen.
Manchmal reicht es schon, wenn das Gegenüber erkennt, welchen Schaden er oder sie angerichtet hat. Manchmal hilft eine Erklärung der eigenen Not oder der Umstände, ohne die eigene Verantwortlichkeit dadurch zu schmälern. Eine Entschuldigung kann ungemein befreiend sein, insbesondere, wenn sie angenommen werden kann. Womöglich ist auch eine symbolische oder tatsächliche finanzielle Wiedergutmachung oder eine Hilfeleistung denkbar oder das Versprechen des Tatverantwortlichen, in eine andere Stadt zu ziehen, wenn er freikommt. Von Ferne sind manche Aushandlungen fast rührend marginal und doch helfen sie beiden Seiten, den beschriebenen Knoten zu lösen. Sie helfen, sich nicht immer weiter auseinander zu bewegen, sondern gemeinsam das Seil in einer Bewegung aufeinander zu so weit zu lockern, dass ein Öffnen des Knotens möglich ist.
In allen Fällen ist eine weitgehend neutrale Instanz, eine vermittelnde Person, sinnvoll, die ihrerseits keine Ansprüche geltend macht und allparteilich ist. Vielmehr ist jedes Ergebnis gut, was für die Beteiligten aus freien Stücken funktioniert.
Es wurde vermutlich mehr als deutlich, dass nach meiner Erfahrung mit dem Justizvollzug meine Zweifel daran immer größer werden, dass es innerhalb von Gefängnissen möglich sein wird, in großem Stil Dialogräume zu etablieren. Es liegt mir auch nicht, christlichen Zuckerguss über komplizierte Themen zu gießen und ihre Widerständigkeit damit zuzudecken. Trotzdem glaube ich, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, wie Schritte in diese Richtung gegangen
werden können, und dass es sich insbesondere aus einer theologischen Perspektive lohnt. Ich glaube tatsächlich, dass darin ein Funke einer Frohen Botschaft liegen kann, die es rechtfertigt, dieses Thema nicht nur als Vortrag, sondern als Predigt in einem Gottesdienst vorzutragen.
In der Vergangenheit haben Projekte der so genannten Restorative Justice, der wiederherstellenden Gerechtigkeit, erstaunliche Erfolge verzeichnen können. Desmond Tutu, anglikanischer Bischof in Südafrika, hat mit Nelson Mandela die so genannten Wahrheits- und Versöhnungskommissionen gegründet, um die Gewalttaten der Apartheit aufzuarbeiten. Es ging um hunderte Fälle von Folter und die grausame Ermordung von Schwarzen und Weißen. Die Spirale des Hasses und der Gewalt drohte immer weiterzugehen. Die Idee war, durch die ungeschönte Erzählung aller Betroffenen, die Wahrheit, und Ausgleichszahlungen sich von der Tabuisierung und gegenseitigen Schuldzuweisung zu entfernen. Und trotz der Ungeheuerlichkeit der Taten und dem unendlichen Leid der Betroffenen war es in vielen Fällen möglich, dass sich verfeindete Menschen wieder begegnen und annähern konnten.
Antrieb für Tutu war zuallererst die Zuwendung zu den Menschen und die Gewaltlosigkeit. Für ihn hieß Christ zu sein immer auch politisch zu sein und sich bei Ungerechtigkeiten einzumischen. Für ihn war klar, dass das, was passiert ist, nicht vergessen werden kann und darf. Vielmehr lag ihm daran, in der Erinnerung Brücken zwischen Menschen zu bauen, damit sich derartige Grausamkeiten und Konflikte nicht wiederholten und Heilung möglich werden kann.
Für mich als Theologin ist sein Charisma, aber insbesondere sein stetiges Ankämpfen gegen übergroße Windmühlen ein enormer Antrieb. Es geht darum, den und die Einzelne als Mensch im Blick zu haben, mit den Ressourcen und nicht nur den Defiziten. Ein Mensch, der zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, ist mit gutem Grund ein verurteilter Straftäter. Und doch liegt mir daran, diesen Menschen um seinetwillen, aber auch um der Gesellschaft Willen nicht abzuschreiben. Das darf die Betroffenen nicht ausklammern: Verletzungen bedürfen zunächst einer Versorgung der Wunde; Verletzte wiederum bedürfen, dass man sich ihrer annimmt und mit ihnen gemeinsam herausfindet, was ein Stück zu ihrer Heilung betragen kann.
Die christliche Botschaft ist dabei eine wichtige Ressource, die ermutigt, niemanden aufzugeben – weder die Verurteilten, noch die Verletzten. Natürlich muss ich mir anhören, dass realistisch betrachtet viele Fälle nicht gelöst werden können. Und doch ist jeder Fall, in dem es gelingt, ein großer Erfolg. Und häufig sind auch kleine Schritte, das Nachdenken und Umdenken durch einen Brief beispielsweise, schon lebensverändernde Ereignisse. Eine christliche Kernbotschaft ist für mich auch, dass im Kleinen häufig die größten Dinge passieren können.
Nicht zuletzt ist es für mich auch eine politische Frage, denn es ist wichtig, dass sich Christ:innen an die Seite derer stellen, die gesellschaftlich keine Lobby haben. Dies gilt für Inhaftierte, aber auch für diejenigen, die zum Opfer geworden oder gemacht worden sind. Ihnen Handlungsfähigkeit über ihr eigenes Leben zurückzugeben, halte ich für entscheidend, damit sie ihr Leben wieder selbständig gestalten können. Nicht umsonst sind Empowerment und Hilfe zur Selbsthilfe zwei wichtige Prinzipien von dialogischen Aufarbeitungsverfahren.
Wenn ich mir die heutigen Lesungstexte und den Predigttext ansehe, ist es eine große Herausforderung eine Brücke zu schlagen. Die Zusage des Trostes des Paulus an die leidenden Korinther kann ich in für die Auseinandersetzung gut brauchen. Aber das Samenkorn, das sterben muss, um zu leben, bereitet mir großes Kopfzerbrechen. Alle wollen Jesus sehen, weil er Lazarus auferweckt hat. Und dann macht er so eine Ansage: Hängt nicht am Leben, sondern setzt es auf’s Spiel. Für Menschen nach Gewalttaten ist das wohl nur schwer zu ertragen. Aber womöglich ist seine Botschaft, die Angst anzunehmen und loszulassen – und nach den Sternen zu greifen. In der Komfortzone passiert Versöhnung jedenfalls nicht.
Wir haben darum und dafür gesungen, wonach ich mich sehne: „The kingdom of God is justice and peace“, „Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geist. Komm, Herr, und öffne in uns die Tore Deines Reiches.“
Ich glaube, dass mit jedem Versuch, Verständnis und Annäherung zwischen den Beteiligten von Gewalt zu stiften, ein Schritt hin zu Versöhnung und Gerechtigkeit und damit zum Frieden getan ist. Die Bitte an Gott, in uns, in jedem Einzelnen von uns, diese Tore zu öffnen, stärkt mich, trotz aller Hindernisse und Unwägbarkeiten diesen Weg weiterzugehen und daran festzuhalten, dass ein besseres Morgen möglich ist.